Spurensuche

Sonntag, 15. September 2019. Wir wachen früh auf. Sehr früh. Der äußerst deliziöse Camping-Grill-Burger und eine anstrengende Arbeitswoche lassen uns vor 23.00 Uhr ins Dachzelt purzeln. Wecker auf 8.00 Uhr gestellt. Wir wollen früh raus, um noch einen Spaziergang durch die Altstadt von Thorn mit dem Dackel zu machen, bevor es gen Ermland-Masuren geht.

Mist. Wir sind um 7.15 Uhr wach. Ohne Muezzin-Ruf und ohne Wecker. Vielleicht liegt es auch ein wenig am Dackel. Aber wir sind wach und beschließen direkt aufzustehen und das Beste aus dem frühen Erwachen zu machen. Um kurz nach 8.00 Uhr brechen wir frisch geduscht und gestärkt mit Hornet auf über die Weichsel gen Altstadt. Nach zwei Stunden Sightseeing und Bummel durch die mittelalterlichen Straßen, kehren wir zurück zum Camping-Platz. Der Tau der Nacht auf dem Dachzelt ist zum Glück inzwischen von der Morgensonne getrocknet worden. Wir packen alles zusammen und machen uns auf gen Allenstein (heute Olsztyn). Noch 160km liegen vor uns, bevor sich für mich ein emotionaler Moment offenbaren wird.

Meine Großmutter mütterlicherseits stammt aus Ostpreußen. Sie wurde 1932 als Magdalene Schimanski in Schönbrück (heute Sząbruk) geboren und lebte dort bis 1945 mit ihren Eltern und sieben Geschwistern. An einem Sonntag im Januar 1945 mussten sie in einer kurzfristigen Aktion ihre geliebte Heimat verlassen. Omi erinnert sich noch sehr genau an Sonntag, den 21. Januar 1945: „wir waren noch in der Kirche zum Gottesdienst, als es plötzlich hieß, der Russe stehe vor der Haustür, alle sollten so schnell wie möglich ihre Sachen packen und gen Westen fliehen.“ Die Kriegstagebücher beschreiben jenen 21. Januar wie folgt: „Ostpreußen 1945 – Von Süden und Osten her war Ostpreußen durch die Rote Armee bedroht. Adolf Hitler erlaubte der 4. deutschen Armee den Rückzug auf die Seen-Stellung (ostpreußische Seenplatte) bei Lötzen (heute Giżycko in Polen). In zahlreichen Städten und Dörfer wurde der Räumungsbefehl erteilt“.

Von da an Begann für meine Omi, ihre Geschwister und die Mutter eine nervenaufreibende tagelange Flucht mit den Trecks über das Frische Haff, Kahlberg, bis Danzig. Omi berichtete mir selten, aber dann umso intensiver darüber, wie der Russe angriff, das Haff bebombte, die Flüchtenden – teilweise barfuß – durch das Blut toter Pferde und Gefallener über das Eis liefen, Mütter mit ihren Kinderwägen im Eis einbrachen usw. Unvorstellbare Erlebnisse und Traumata wurden hier produziert. Aber meine Omi und ihre Familie hatten Glück. In Danzig kamen sie bei einem sehr netten Molkerei-Besitzer unter. Am darauf folgenden Tag sollte es von Gotenhafen (der Hafen nördlich von Danzig) mit dem Schiff nach Kiel gehen. Doch Omis jüngster Bruder (damals 5 Jahre) wollte zurück nach Hause und lief fort. Meine Urgroßmutter wollte natürlich nicht ihren Jüngsten zurücklassen und verpasste die Chance auf den nächsten Schiffstransport gen westliches Deutsches Reich. Am 30. Januar 1945 verließ das Kreuzfahrtschiff Wilhelm Gustloff mit 10.300 Passagieren Gotenhafen. Der Rest ist Geschichte… Bei ihrer Versenkung durch das sowjetische U-Boot S-13 vor der Küste Pommerns kamen mehr als 9.000 Menschen ums Leben.

Omi und ihre Geschwister wurden 10 Tage später auf einen Zug gen Niedersachsen gesetzt. Am 22. Dezember 1950 heiraten meine Großeltern. Der Rest ist ebenfalls Geschichte. Es gibt mich 🙂

Friedrich und ich treffen in dem 800-Seelen-Ort Schönbrück ein, gehen die Straße entlang, in der meine Omi gelebt hat, machen einen Abstecher an den See, in dem sie schwimmen gelernt hat und besuchen die Kirche, in der sie am 21. Januar 1945 zuletzt gebetet hat, bevor nichts mehr war wie je zuvor. Ein emotionaler Tag neigt sich dem Ende zu.

Im Anschluss besuchen wir noch die Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren, ca. 10 km nordöstlich von Schönbrück. Ein traumhaft idyllisches Städtchen, ebenfalls mittelalterlich geprägt. Hier kehren wir noch zum Essen ein und steuern dann einen Campingplatz am Fluss Alle an. Wir haben heute viel erlebt und lassen den Abend gemütlich am Ufer ausklingen.